Tristan und Isolde
Anmerkungen

Innere und äußere Handlung
Richard Wagner bezeichnete Tristian und Isolde als eine "Handlung", das heißt, mit einer wörtlichen Übertragung des griechischen Wortes "Drama". Handlung, aber in welchem Sinn? Wagner kann mit diesem Begriff für sein an äußeren Ereignissen äußerst armes Werk nur auf eine innere Handlung zielen. Die Wirklichkeit, in der sich die äußere Handlung abspielt, die Welt bestimmter Pflichten, von Sitte und Ehre, in der Kurwenal, Marke und Melot "leben und sind", gilt Tristan und Isolde als bloßer Schein. Für sie wird der seelische Innenraum zur "wahren Welt". Hier wird der Tag zu Sphäre des Traums, die Nacht aber zum Schoß der Wahrheit.
Die Momente der äußeren Handlung, die eigentlichen Aktionen (wenngleich auch sie ohne historisches Kolorit) beschränken sich auf die Szenenschlüsse oder auf das Ende der Akte. Isoldes Einladung an Tristan und dessen über Kurwenal übermittelte Ablehnung (I. Akt, Szene 2), die unvermittelte Ankunft in Kornwall (I. Akt, Schluss), Tristans Selbstmordversuch, sein Zweikampf mit Melot (II. Akt, Schluss), Isoldes Ankunft und gleich darauf Markes Eintreffen in Kareol, der Tod von Melot und Kurwenal (III. Akt, letzte Szene). Diese einfachen Geschehnisse vollziehen sich in der objektiven Zeitebene: ihr Ablauf ist real.
Zur subjektiven Zeitebene gehören Isoldes Dialog mit Brangäne sowie Tristans und Isoldes Zusammenkunft auf dem Schiff und ihre Vereinigung durch den Liebestrank (I. Akt), der Zwiegesang in der Liebesnacht und Markes Selbstgespräch (II. Akt, Mitte) der "innere" Monolog Tristans, seine Fiebervisionen und Isoldes Liebestod (III. Akt, Beginn und Schluss). Subjektive Zeit bedeutet eine Ausdehnung des Augenblicks. Das geschieht durch ein Labyrinth seelischer Vorgänge und psychischer Reflexionen, durch die ständige Bezugnahme der Hauptpersonen, Tristan, Isolde und Marke, auf ihre Vergangenheit. Dadurch greift die Vergangenheit in die Gegenwart hinein und lähmt die sich erinnernden Personen. An die Stelle des Handelns tritt die Sehnsucht nach dem Tod. Dieses ganze psychische Netzwerk wird von der Musik bewegt, deren Medium das "wissende" Orchester ist.

Das Motiv der Sehnsucht
Die Oper beginnt mit unendlichen Steigerungswellen (Violoncelli, leise, unisono). Zentral ist ein schmachtender Cestus (wie ein Seufzer) nach oben, der in einen Akkord der Holzbläser mündet, Dieser Akkord ist in die Musikgeschichte als "Tristan-Akkord" eingegangen. Zwar bedeutet die relative Auflösung der Dissonanz für den Augenblick einen Ruhepunkt, trotzdem bleibt das Ganze offen und zieht mit magnetischer Kraft neue Spannung nach sich (die nie zu stillende Sehnsucht). Die gleiche Akkordwendung wird nach unzähligen Wiederholungen und Varianten erst im letzten Moment der "Handlung" nach Isoldes Liebestod, endgültig aufgelöst. Im Jenseits kennt man keine Dissonanzen.

Eine verhängnisvolle Affäre
"Da ich nun aber doch im Leben nie das eigentliche Glück der Liebe genossen habe, so will ich diesem schönsten aller Träume noch ein Denkmal setzen, in dem von Anfang bis zum Ende diese Liebe sich einmal so recht sättigen soll, schrieb Wagner 1854 an Liszt, während einer stürmischen Liebesaffäre mit Mathilde Wesendonck. Mathilde Wesendonck (1828-1902) war mit Wagners Mäzen, dem Kaufmann Otto Wesendonck, verheiratet. Das Liebensverhältnis spiegelt sich auch in Wagners künstlerischem Schaffen: Von Mathilde Wesendoncks literarischen Werken vertonte er die "Fünf Gedichte", und die Verbindung beeinflusste auch seine Arbeit an Tristan und Isolde. So sind die "Wesendonck-Lieder" musikalisch eng mit dem Tristan verwandt. Die Kompositionsskizze des ersten Aktes, die Ende 1857 fertiggestellt war, leitete Wagner mit einem Widmungsgedicht an Mathilde ein. Die Affäre wurde schließlich zum Skandal. Wagner flüchtete im Jahr 1858 nach Venedig, in die Stadt der Liebe, wo er im Palazzo Vendramin am Canal Grande den Tristan instrumentierte.

Isolde von der weißen Hand
Der Tristan-Stoff, mit dem Wagner seit seiner Dresdener Kapellmeister-Zeit vertraut war, gehört dem keltischen Sagenkreis an und ist in zahlreichen mittelalterlichen literarischen Quellen überliefert. Die Tristan-Dichtung von Chrétien de Troyes (Mitte des 12. Jahrhunderts), Frankreichs berühmtestem Trouvére, ist nicht erhalten geblieben. Auch die Verserzählungen von Béroul und Thomas d'Angleterre, ebenfalls aus dem 12. Jahrhundert, sind nicht vollständig überliefert. Die ältesten deutschen Bearbeitungen des Stoffes stammen von Eilhart von Oberge (Tristan, um 1190) und von Gottfried von Straßburg (Tristan, um 1210). Auch der Schusterpoet Hans Sachs beschäftigte sich mit der Tristan-Sage (Tragedia mit 23 Personen von der strengen Lieb Herrn Tristan mit der schönen Königin Isolden, 1553-ein ironischer Hinweis darauf findet sich im dritten Akt der - Meistersinger von Nürnberg). In der von Hermann Kurtz bearbeiteten, 1844 erschienenen epischen Dichtung von Gottfried von Straßburg entdeckte Wagner die Spur zweier Isolde-Gestalten. Ursprünglich wollte er beide auftreten lassen, sowohl Markes Frau, die irische Isolde, die mit Zauberkräften begabte Schöne, und die bretonische Isolde von der weißen Hand, die Tristan nach seiner Flucht vor Marke heiratet. Das Motiv des langen Wartens auf die Ankunft von Isoldes Schiff in der Bretagne und das Motiv der guten oder schlechten Kunde (schwarze oder weiße Flagge am Mast bzw. traurige oder lustige Hirtenweise) sind Elemente eines der vermutlich frühesten Entwürfe und stammen aus der Geschichte der beiden Isolden. Zum Liebestrank-Motiv könnte Wagner auch durch Gaetano Donizettis Oper - Der Liebestrank, ein Repertoirestück in Dresden , und durch Julius Moses´ Gedicht König Mark und Isolde (Liebestrank als Verhängnis) inspiriert worden sein. Bezeichnender jedoch für das Gefühls- und Gedankengut von Wagners Tristan und Isolde ist der Roman Lucinde von Friedrich Schlegel (1799). Hier tauchen die Motive des Todes- und Liebestrankes, des Liebestodes, der magischen Macht der Nacht und des "Enthusiasmus der Wollust" (Thomas Mann) auf.

Nacht und Träume
In dem Wagner gut bekannten Roman Lusinde findet man folgenden Dialog zwischen den Liebenden: "Nur in der Ruhe der Nacht", sagte Lucinde, "glüht und glänzt die Sehnsucht und die Liebe hell und voll wie diese herrliche Sonne". - "Und am Tage", erwiderte Julius, "schimmert das Glück der Liebe blass, so wie der Mond nur sparsam leuchtet." - "Oder es erscheint und schwindet plötzlich ins allgemeine Dunkel" fügte Lusinde an, "wie jene Blitze, die uns das Gemach erhellten, da der Mond verhüllt war." Auch die Nacht-Atmosphäre der Novalis-Gedichte (Hymnen an die Nacht) könnte Wagner bei den textlichen Formulierungen beeinflußt haben. Novalis behauptete: "Für den Liebenden ist der Tod eine Brautnacht, ein Geheimnis süßer Mysterien." Und in den "Hymen an die Nacht" legte der Dichter die Wertigkeit der sich voneinander scheidenden Elemente, von Licht und Finsternis, Tag und Nacht fest:"Muß immer der Morgen wieder kommen? Endet nie des Irdischen Gewalt? Wird nie der Liebe geheimes Opfer ewig brennen?" Tristan und Isolde nennen sich "Nachtgeweihte". Das steht wörtlich bei Novalis: "Der Nacht Geweihte".
Delirium als Purgatorium
Der erste Akt zeigt das Bemühen der Liebenden, ihre Liebe zu leugnen; der Liebestrank symbolisiert die Unmöglichkeit, wahrer Liebe zuwiderzuhandeln. Der zweite Akt zeigt den Versuch, diese Liebe in einer Welt gesellschaftlicher Verbindlichkeiten, von Ehekonventionen und sexuellen Besitzansprüchen zu realisieren. Tristans Wunde, die er sich durch Melots Schwert zugefügt hat, symbolisiert, dass er sich unter dem Zwang der Verhältnisse aufgibt, und zugleich den Druck seines inneren Konflikts. Erst Anfang des dritten Aktes enthüllt sich die Eigenart dieser Wunde völlig, denn hier wird Tristans Delirium zum Prozess seiner Erleuchtung. Das Delirium ist Tristans Prüfungsfrist, eine große Vorbereitung: Er findet im Tod kein Vergessen, sondern Triumph.

Tristan und seine Leidensgenossen
Wagner war der erste, der innerhalb einer langen Reihe von Bearbeitern nicht die Ehebruchsgeschichte, sondern die Tragödie der Liebe darstellte. Tragödie, aber in welchem Sinn? Als die Unerfüllbarkeit der Liebe unter bestimmten gesellschaftlichen Verhältnissen? Oder weil die Liebe immer und überall unerfüllt bleiben muss? Dann läge es in der Natur der Liebe, "furchtbare Qual" zu sein? Das Wesen der Liebe Tristans und die Ursache ihrer "Unerfüllbarkeit" kann weder soziologisch-politisch (wegen verletztet Staatsräson) noch metaphysisch (Liebe ohne furchtbare Qual) befriedigend erklärt werden. Wagner selbst betonte die Ähnlichkeit zwischen Tristan und Siegfried (Götterdämmerung) einerseits und zwischen Tristan und Amfortas (Parsifal) andererseits. Damit erklärt er Tristans Tragik in einem weiteren tieferen Sinne.

Symmetrien
Die Komprimierung der äußeren Handlung gegen Ende eines jeden Aktes kann auch als Konsequenz und Kulmination vorwärtstreibender Kräfte interpretiert werden: die Wirkund des Liebestranks (I. Akt), Tristans Selbstmord nach der Verwirklichung erfüllter nächtlicher Liebe (II. Akt) , der Tod Tristans in Isoldes Armen (III. Akt) Joseph Kerman entdeckte eine andere Symmetrie der dramatischen Konstruktion ("Opera as Symphonic Poem", in : Opera as Drama, New York 1956). Jeder Akt eröffnet mit einer Bühnenmusik: wir hören das nostalgische Lied des Matrosen (I. Akt) , den Klang der Jagdhörner aus der Ferne (II. Akt) und "den Hirtenreigen, sehnsüchtig und traurig auf einer Schalmei geblasen" (III. Akt). Ein symmetrischer Aufbau charakterisiert den Zwiegesang im "Schoß der Nacht" (II. Akt) und Tristans Fiebervisionen (III. Akt).

Tristan und Siegfried
"Tristan freit wie Siegfried das ihm nach dem Urgesetze bestimmte Weib im Zwange einer Täuschung, welche diese seine Tat zu einer unfreien macht, für einen anderen, und findet aus dem hieraus entstehenden Missverhältnisse seinen Untergang. (Wagner, 1871) Das Urgesetz sagt nicht, dass die Liebe immer und überall Qual und Not ist. Das Urgesetz sagt, dass man das bestimmte Weib erkennen müsse, und verbietet den Verrat der erkannten Liebe. Die zwei Verräter: Tristan und Siegfried.

Tristan und Amfortas
Die Idee, dass der auf der Suche nach dem Gral umherirrende Parsifal auch an Tristans Sterbebett auftaucht, stammt aus einer der ausführlichsten frühen Textskizeen. Wagner begründete Parsifals Auftreten damit, dass für ihn der "an der empfangenen Wunde siechende und nicht sterben könnende Tristan ….mit dem Amfortas im "Gral-Roman" identisch geworden sei. Schon 1859, während der Komposition des dritten Tristan-Aktes, schrieb er über den Parsifal: "Genau betrachtet ist Amfortas der Mittelpunkt und Hauptgegenstand….Er ist mein Tristan des dritten Aktes (des Parsifal) mit einer undenklichen Steigerung. Die Speerwunde, und wohl noch eine andere - im Herzen, kennt der Arme in seinen fürchterlichen Schmerzen keine andere Sehnsucht, als die zu sterben." Die zwei Sünder : Tristan und Amfortas.

Quelle
Opera, Komponisten-Werke-Interpreten, Herausgeber András Batta, Könemann Verlaggesellschaft 1999.